Interessant sind die bisherigen Forschungsergebnisse zur Nutzung des „Gedankenraums“ im Zusammenhang mit epistemischer Modalität.
In direkter Interaktion wird in der ÖGS grundsätzlich zwischen den GesprächspartnerInnen gegenseitiger Blickkontakt gehalten. Dieser bleibt unabhängig vom Thema und auch bei längeren narrativen Passagen bestehen. Um aber Überlegungen auszudrücken, wird in der ÖGS der sogenannte Gedankenraum genutzt.
Anhand der nach oben gerichteten Blickrichtung (und dem Einsatz weiterer Indikatoren wie der Orientierung bzw. Ausführung der Indizes in Richtung des Gedankenraums) wird ein höher gelegener Bereich im Gebärdenraum, der „Gedankenraum“, anvisiert. Dieses sprachliche Instrument ermöglicht das Ausdrücken hypothetischer Gedankengänge.
Dabei kann der Blick entweder zu Beginn der hypothetischen Gedankengänge kurz nach oben zum Gedankenraum schweifen und dann wieder zum Gegenüber gerichtet sein. Zum anderen kann der Blick immer wieder oder durchgehend zum Gedankenraum gerichtet werden, während die hypothetischen Gedankengänge ausgedrückt werden.
Arten
a.) SICHER
Ein Sachverhalt wird als sehr wahrscheinlich eingeschätzt.
Ein Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, wird aufgrund der bisherigen Erfahrungen und/oder des Vorwissens des Sprechers/der Sprecherin bzw. des Gebärdensprachbenutzers/der Gebärdensprachbenutzerin als sehr wahrscheinlich eingeschätzt.
Diese Abstufung epistemischer Modalität kann mit folgenden nichtmanuellen Sprachmitteln in der ÖGS ausgedrückt werden:
Einsatz von überzeugtem Kopfnicken
Verwendung der Mundgeste „Lippen nach vor“, die häufig mit dem Kopfnicken auftritt
Zusammenziehen der Augenbrauen, das häufig mit dem Kopfnicken auftritt
Um den Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, als sicher bzw. sehr wahrscheinlich einzuschätzen, wird dieser durchgehend von den aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmittel begleitet.
Zur Veranschaulichung sollen folgende Beispiel dienen:
Ich kenne eine bestimmte Person von früher, die häufig Tennis gespielt hat. Aufgrund dieses Vorwissens halte ich es für sicher bzw. sehr wahrscheinlich, dass diese Person Tennis spielen kann. (Die gebärdete Aussage, dass „jene Person Tennis spielen kann“ [mit den Gebärden IX-Person TENNIS-SPIELEN IX-Person], wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
Ich kenne eine bestimmte Person, deren Eltern gehörlos sind. Aufgrund dieses Vorwissens halte ich es für sicher bzw. sehr wahrscheinlich, dass diese Person gebärdensprachkompetent ist. (Die gebärdete Aussage, dass „jene Person gebärdensprachkompetent ist“ [mit den Gebärden IX-Person GEBÄRDEN IX-Person], wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
Wenn ich im Sommer wandern gehe, hat die Almhütte normalerweise offen. Aufgrund dieses Vorwissens, dass die Almhütte höchst wahrscheinlich geöffnet ist, halte ich es für sicher bzw. sehr wahrscheinlich, dass ich dort Essen, Getränke usw. besorgen kann. (Die gebärdete Aussage, dass „die Almhütte geöffnet ist“ [mit den Gebärden ICH WISSEN IX-Hütte OFFEN], wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
Normalerweise kommt mein Sohn mittags nach Schulschluss heim und läutet. Es läutet an der Tür und es ist mittags. Aufgrund dieses Vorwissens, halte ich es für sicher bzw. sehr wahrscheinlich, dass es mein Sohn ist, der an der Tür läutet. (Die gebärdete Aussage, dass „dass es mein Sohn ist“ [mit den Gebärden MEIN SOHN], wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
b.) GLAUB-NEIN
Der Sachverhalt als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.
Ein Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, wird aufgrund der bisherigen Erfahrungen und/oder des Vorwissens des Sprechers/der Sprecherin bzw. des Gebärdensprachbenutzers/der Gebärdensprachbenutzerin als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.
Diese Abstufung epistemischer Modalität kann mit folgenden nichtmanuellen Sprachmitteln in der ÖGS ausgedrückt werden:
Einsatz von zaghaftem Kopfschütteln
Runzeln der Nase, das häufig mit dem Kopfschütteln auftritt
Zusammenziehen der Augenbrauen, das häufig mit dem Kopfschütteln auftritt
Zurückziehen des Kopfes, das häufig mit dem Kopfschütteln auftritt
Zusammenziehen der Augenlider, das immer wieder auftritt
Um den Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, als eher unwahrscheinlich einzuschätzen, wird dieser durchgehend von den aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmittel begleitet.
Zur Veranschaulichung sollen folgende Beispiel dienen:
Ich versuche einzuschätzen, ob eine Person gut Tennis spielen kann und halte dies für eher unwahrscheinlich.
Wenn ich im Frühling wandern gehe, hat die Almhütte normalerweise zu. Ich überlege, ob sie geschlossen oder geöffnet ist und nehme an, dass sie eher nicht geöffnet ist.
Normalerweise kommt mein Sohn mittags nach Schulschluss heim und läutet. Es läutet zu früh an der Tür. Aufgrund dieses Vorwissens, halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass es mein Sohn ist, der an der Tür läutet. Es ist vermutlich die Post. (Die gebärdete Aussage, dass „es eher nicht mein Sohn ist“ [mit den Gebärden MEIN SOHN], wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
c.) HIN-UND-HER
Ein Sachverhalt wird als vage ausgedrückt.
Ein Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, wird aufgrund der bisherigen Erfahrungen und/oder des Vorwissens des Sprechers/der Sprecherin bzw. des Gebärdensprachbenutzers/der Gebärdensprachbenutzerin als vage ausgedrückt.
Zum einen kann das Wissen über die Vagheit einer Einschätzung neutral bewertet werden im Sinne von „ich bin am Abwiegen, ob das eine oder das andere zutrifft“. Zum anderen kann diese Einschätzung negativ bewertet werden im Sinne von „ich bin am Zweifeln, ob das eine oder das andere zutrifft.“
Diese hier beschriebene Abstufung epistemischer Modalität kann mit folgenden nichtmanuellen Sprachmitteln in der ÖGS ausgedrückt werden:
Hin-und-her-Wippen des Oberkörpers, das regelmäßig auftritt
Verwendung der Mundgeste „Mundwinkel nach unten ziehen“, die häufig mit dem Hin-und-her-Wippen des Oberkörpers auftritt
Zusammenziehen der Augenlider, das in der Hälfte der als vage eingeschätzten Äußerungen auftritt
Runzeln der Nase, das in der Hälfte der als vage eingeschätzten Äußerungen auftritt
Zusammenziehen der Augenbrauen, das in der Hälfte der als vage eingeschätzten Äußerungen auftritt
Um den Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, als vage auszudrücken, wird dieser durchgehend von einem Hin-und-Her-Wippen des Oberkörpers begleitet. Die Mundgeste „Mundwinkel nach unten ziehen“ kann entweder zu Beginn der Äußerung kurz ausgeführt werden, oder sie begleitet die gesamte als vage eingeschätzte Äußerung. Die weiteren aufgelistete nicht-manuellen Elemente (Zusammenziehen der Augenbrauen, Runzeln der Nase, Zusammenziehen der Augenlider) begleitet stets die gesamte Äußerung, sofern sie auftreten.
Zur Veranschaulichung sollen folgende Beispiel dienen:
In bin am Zweifeln (wäge ab), ob die Almhütte geöffnet oder geschlossen ist. (Die gesamte gebärdete Aussage wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
In bin am Zweifeln (wäge ab), ob viele Personen zur Lehrveranstaltung kommen. (Die gesamte gebärdete Aussage wird von den oben aufgelisteten nichtmanuellen Sprachmitteln begleitet.)
Wenn ich im Sommer wandern gehe, hat die Almhütte normalerweise offen. Aber das Wetter ist gerade nicht sehr schön. Daher bin ich am Zweifeln (wäge ab), ob sie geöffnet oder geschlossen ist. (Die gebärdete Aussage, dass „jemand am Zweifeln ist, ob sie geöffnet oder geschlossen ist wird von den oben aufgelisteten nicht manuellen Sprachmitteln begleitet.)
Ich stelle fest, dass es schon später als sechs Uhr (18:00) am Abend ist. Ich bin am Zweifeln (wäge ab), ob das Geschäft noch geöffnet ist, um dort einzukaufen.
d.) SORGE
Ein Sachverhalt wird als für jemanden beunruhigend ausgewiesen.
Ein Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, wird aufgrund der bisherigen Erfahrungen und/oder des Vorwissens des Sprechers/der Sprecherin bzw. des Gebärdensprachbenutzers/der Gebärdensprachbenutzerin als für jemanden beunruhigend bzw. besorgniserregend ausgewiesen. Diese Einschätzung tritt nur in besonderen Kontexten auf.
Diese epistemischer Modalität kann mit folgenden nichtmanuellen Sprachmitteln in der ÖGS ausgedrückt werden:
Zitterbewegung des Kopfes
Anspannen des Oberkörpers
Verwendung der Mundgeste „Mundwinkel nach unten ziehen“, die in der Hälfte der als für jemanden beunruhigend eingeschätzten Äußerungen auftritt
Gehäuftes Auftreten der Gebärde HOFFEN in Äußerungen, die als für jemanden beunruhigend eingeschätzt werden
Um den Sachverhalt, geäußert in einem hypothetischen Gedankengang, als für jemanden beunruhigend bzw. besorgniserregend auszuwiesen, wird dieser durchgehend von den aufgelisteten nicht manuellen Sprachmitteln begleitet.
Zur Veranschaulichung sollen folgende Beispiel dienen:
Als Mutter schaue ich meinem Sohn beim Schirennen zu. Ich bin ängstlich und besorgt wäge ich ab, ob er hoffentlich auch schnell fährt. (Die gebärdete Aussage, dass „die Mutter ängstlich und besorgt abwiegt, ob ihr Sohn auch hoffentlich schnell fährt“ wird von den oben aufgelisteten nicht manuellen Sprachmitteln begleitet sowie von einem Hin-und-Her-Wippen des Oberkörpers.)
Ich bin in Sorge, Hoffnung, aber auch in Zweifel, dass/ob nichts passiert. (Die gesamte gebärdete Aussage wird von den oben aufgelisteten nicht manuellen Sprachmitteln begleitet sowie von einem Hin-und-Her-Wippen des Oberkörpers.)